Das innere Kind ist zum großen Kassenschlager geworden. Du aber fragst provokativ, ob das alles nur ein großes Missverständnis ist. Hol mich doch mal bitte ab, was hat es damit auf sich?
Antwort: Die Theorie des inneren Kindes ist in den 1980er-Jahren vor allem von US-amerikanischen Psychologen entwickelt worden. Hintergrund ist das sehr mäßige Bildungsniveau des durchschnittlichen US-Amerikaners, weshalb etwas komplexere Theorien simplifiziert werden müssen, um sich verbreiten zu können. Mit der Theorie des inneren Kindes hatten die Autoren, hier vor allem John Bradshaw, Margaret Paul und Erika Chopich, offensichtlich den Zeitgeist getroffen und eine große Bewegung in Gang gesetzt. Das Bildungsniveau des durchschnittlichen Europäers, vor allem auch des Deutschen, ist mittlerweile aber ebenso mäßig, wie das der US-Amerikaner. Hier hat unser Schulsystem ganze Arbeit geleistet.
Das Konzept des „inneren Kindes“ ist ein alter Hut
Aber zurück zum inneren Kind. Im Kern handelt es sich dabei um psychologische Modelle, die schon lange bekannt sind und von professionellen Therapeuten angewendet werden. Um es nun auch simpel zu formulieren, handelt es sich bei dem Konzept um die Annahme, dass frühkindliche Erfahrungen maßgeblich dafür verantwortlich sind, wie ich spätere Erfahrungen bewerte, vermeide oder suche. Es geht darum, zu begreifen, wie sich die Gefühle eines Menschen entwickeln, welchen Einfluss sie im Leben eines Menschen haben und wie Blockaden erkannt und überwunden werden können.
Frage: Es ist doch gut, wenn die Menschen das komplizierte Konzept auf diesem Weg verstehen. Immerhin hat der Begriff „inneres Kind“ über 6 Millionen Treffer bei Google. Das zeigt doch, dass das Thema relevant ist und angenommen wird.
Antwort:Das ist ja genau das Problem. Es handelt sich bei dem Konzept um ein so stark simplifiziertes Modell, dass es aus meiner Sicht therapeutisch gar nicht nutzbar ist.
Ein professioneller Therapeut beherrscht die Originaltheorie, der braucht kein solches Volksmodell. Der Laie aber beschäftigt sich vor allem in persönlichen Krisensituationen mit dem Modell des inneren Kindes und erwartet natürlich Heilung. Es ist tatsächlich ein Verdienst des Modells, dass die Umstände frühkindlicher Entwicklung stärker ins Bewusstsein der Menschen rücken. Die eigene Geschichte wird in Gesprächen und beim eigenen Nachdenken rekapituliert, Enttäuschungen und Traumatisierungen kommen zur Sprache aber auch gute Erinnerungen werden als Ressource aktiviert. Das alles ist erst einmal zu befürworten. Allerdings bin ich davon überzeugt, dass die Identifikation der für die aktuellen Probleme relevanten frühkindlichen Ereignisse, das Verständnis von Kausalität und Korrelation, also von Ursache und Wirkung und ihre Einordnung in die familiär-systemischen Bezüge ohne professionelle Hilfe nicht gelingen kann. Dafür gibt es zwei Gründe.
Der erste Grund ist ganz einfach: nur weil ich mich mit meiner eigenen Geschichte befasse, begreife ich ja nicht automatisch die drei gerade genannten diagnostischen Aspekte Relevanz, Kausalität und Systembezug. Gerade bei Angst und Depressionen ist es oft immanenter Teil der Problematik, dass ich die Ursachen dafür nicht wirklich erkennen möchte, weil ich die Veränderung meines Lebens einerseits zwar anstrebe, andererseits macht aber gerade sie mir die Angst. Ich erinnere mich dazu auch nur sehr lückenhaft (Quantität) und selektiv (Qualität) und genau das ist oft selber eine Folge der psychischen Verarbeitung belastender frühkindlicher Ereignisse, zum Beispiel als Folge von Verdrängungen.
Ein Volksmodell ohne nachhaltigen therapeutischen Nutzen
Der zweite Grund ist eigentlich ebenso einfach. Ich nenne mal eine Analogie: Nur weil ich wahrnehme, dass ich Erkältungssymptome habe, sind dies nicht gleich Symptome eines grippalen Infektes, und selbst wenn sie es wären, sind diese mit der Wahrnehmung nicht auch bereits überwunden. Selbst wenn ich es schaffen würde, mit Hilfe der Idee des inneren Kindes relevante und kausale Ereignisse in meinem biografischen Bezugssystem zu rekonstruieren, so würde dies ja nicht zugleich die Heilung sein. Zwischen Erkennen und Heilen muss ja eine ganze Menge passieren, nämlich die eigentliche Therapie. Und da bietet dieses Volksmodell „inneres Kind“ aus meiner Sicht keinen wirklich funktionierenden Ansatz. Natürlich ist es positiv, wenn ich lerne, achtsam mit mir umzugehen, mich anzunehmen, wie ich bin, mich vielleicht sogar zu lieben mit all meinen Problemen. Aber das alles ist ja noch lange keine Heilung. Die Idee des inneren Kindes ist maximal als Sensibilisierung, keinesfalls aber für eine Selbsttherapie geeignet.
Und damit hat sie wiederum zwei alternative oder auch gemeinsame oder wechselnde Folgen. Die eine Folge kann sein, dass ich beginne zu ahnen, was mein Problem ist. Ich erkenne aber gleichzeitig, dass ich „den Geist, den ich heraufbeschworen habe“, also die Beschäftigung mit meinen traumatischen Erlebnissen, nicht mehr loswerde, weil ich keine wirklichen Lösungsansätze finde und im schlechtesten Fall sogar eine Re-Traumatisierung erfahre. Die andere Folge ist nicht weniger problematisch. Ich halte die Beschäftigung mit meinen traumatischen Erlebnissen für den Heilungsprozess selber. Ich erinnere mich an immer mehr Ereignisse in meiner Kindheit und gewinne darüber die Ansicht, meine Probleme Stück für Stück zu lösen. Tatsächlich ist dies aber eine komplette Illusion, die mich von einer Überwindung meiner Probleme abhält und das Leiden unter ihnen sogar verlängert.
Frage: Aber wie kann es denn sein, dass gerade dieses Modell des „inneren Kindes“ einen solchen Erfolg hat, wenn es tatsächlich die Probleme eher schlimmer als besser macht? Das widerspricht sich doch irgendwie.
Simplifizierung, bis kein Inhalt mehr übrig bleibt
Antwort:Na ja, du erreichst die Menschen vor allem über Emotionen, leider nur selten über Logik und Verstand. Das Konzept des „inneren Kindes“ ist ein simples Modell mit dem Anspruch auf Massentauglichkeit. Erreicht wird das vor allem durch den Kniff der Personalisierung, den die meisten Menschen sofort verstehen und für richtig halten. Dabei ist es in der Sache ziemlicher Unsinn.
Als würde es tatsächlich ein Erwachsenen-Ich und ein Kind-Ich geben. Eine Bestseller-Autorin führt sogar zwei Kind-Ichs ein: das „Schattenkind“ und das „Sonnenkind“. Ich vereinfache jetzt auch mal, unter Schattenkind werden alle schlechten und unter Sonnenkind alle guten Erfahrungen in der Kindheit subsummiert. Das ist in hohem Maße anschaulich und verständlich, aber fachlich kompletter Quatsch, weil die Entwicklung der Psyche so eben nicht funktioniert.
Die Begriffe Erwachsenen-Ich und Kind-Ich erinnern stark an die Transaktionsanalyse nach Eric Berne. Sie ist ein ebenso stark vereinfachtes Modell menschlicher Kommunikation. Ich gebe zu, die Versuchung, sich als Laie solcher Modelle zu bedienen, um sein eigenes Verhalten oder das anderer Menschen zu verstehen, ist groß. Weil es eben so einfach ist, kaum Kenntnisse benötigt, um eine irgendwie logische Beschreibung von Kommunikation oder menschlichen Verhaltens abzugeben. Aber es ist eben auf dem Niveau einer Unterhaltung zweier Laien. Für die Lösung wirklich manifester psychischer oder von der Psyche ausgehender Konflikte sind diese Volksmodelle nicht geeignet.
Von dieser Einschätzung ausnehmen möchte ich die Hypnose und die katathym-imaginative Therapie. Auch bei diesen beiden Techniken wird gelegentlich das innere Kind bemüht. Unter anderem, um die Fähigkeit zu testen, in wieweit der Patient bereit und in der Lage ist, sich an seine traumatischen Erfahrungen zu erinnern und diese als Blockade aktueller Handlungen anzuerkennen. Wir haben es hier mit dem gleichen Begriff „inneres Kind“ zu tun, es steckt aber ein ganz anderes Konzept dahinter. Daher gilt alles zuvor Gesagte ausdrücklich nicht für diese beiden Techniken.
Frage:Das ist aber starker Tobak. Ist das nicht ungerecht gegenüber den Menschen, die sich, aus welchen Gründen auch immer, mit solchen Modellen ihrer eigenen Psyche annähern wollen?
Antwort:
Es mag sein, dass das der Eine oder die Andere als ungerecht oder sogar arrogant empfindet. Aber mir geht es hier ja nicht um Gerechtigkeit, sondern um das Verstehen psychischer Entwicklung und das erfolgreiche Überwinden von Ängsten und Depressionen.
Frage:
Kannst du das Ganze vielleicht nochmal an einem Beispiel erläutern? Ich glaube, das würde mir helfen, deine Gedanken zu verstehen.
Antwort:
Stell dir ein Kind vor, das im Alter von 8 Wochen aufgrund einer Krankheit für ganze 3 Monate von der Mutter getrennt, isoliert im Krankenhaus liegen muss. Dreimal am Tag kam eine Krankenschwester zum Füttern und einmal in der Woche ein Arzt zur Visite. In den 60er bis 80er Jahren des letzten Jahrhunderts war das durchaus üblich, viele der heutigen Babyboomer haben das in der einen oder anderen Weise erlebt. Ähnlich war es bei älteren Kindern übrigens auch bei den von den damaligen Fürsorgeämtern in der BRD angeordneten, bis zu 6-wöchigen Kinderkuren. Es ist denkbar, dass diese Trennung von der Mutter schwerwiegende Folgen für das weitere Leben des Kindes bis ins Erwachsenenalter hat, etwa spätere Ängste vor dem Alleinsein, vor einer Trennung oder dem Verlust von Menschen oder Dingen, die einem etwas bedeuten. Wohlgemerkt, das muss nicht sein, kann aber die Folge der sicher traumatischen Erfahrungen des Säuglings oder der Kleinkinder sein. Wenn dem im Einzelfall so ist, dann würde es sich bei den beschriebenen Ängsten um eine Gefühlsblockade handeln, die zur Folge hat, dass bestimmte Situationen im Leben des Menschen gesucht oder vermieden werden. Dies wiederum hat zur Folge, dass dieser Mensch bestimmte Erfahrungen macht und andere nicht, und zwar nicht, weil er das nach bewusster Entscheidung so möchte, sondern weil er sich durch seine Gefühle so steuern lässt.
Jetzt stell dir einen erwachsenen Menschen vor, der von Ängsten und Depressionen geplagt ist und diese gerne überwinden möchte. Beim Nachdenken über seine Kindheit fällt ihm diese Erfahrung im Krankenhaus oder in der Kinderkur ein, die er wohl nur aus Erzählungen seiner Eltern kennt, weil er sich wahrscheinlich selber nicht daran erinnern kann. Und jetzt klebt er ein Etikett mit der Beschriftung „inneres Kind“ auf diese Erinnerung oder das dadurch ausgelöste blockierende Gefühl. Was ist der Gewinn, an welcher Stelle ist dieses Etikett von Vorteil? Es reicht doch völlig aus, eine solche Erfahrung identifiziert zu haben, um sie als mögliche Ursache seiner akuten Angstschübe zu betrachten. Welchen Vorteil hat es, dieses Ereignis zu personalisieren und damit aus meiner Sicht zu banalisieren?
Frage:
Ja, warum?
Ein großer Markt, aber keine große Hilfe
Antwort:
Du hast die Trefferanzahl von „inneres Kind“ auf Google erwähnt. Dort findest du aus meiner Sicht die Antwort auf deine Frage. Ich zitiere einmal frei und wahllos aus Treffern der ersten drei Ergebnisseiten:
• du solltest das innere Kind heilen
• du solltest fürsorglich sein
• dich mit ihm versöhnen
• ihm helfen, erwachsen zu werden
• finde seine wahre Verletzung
• nimm es an die Hand
• die Innere Kind-Arbeit
• stelle Kontakt zu ihm her
• sei achtsam mit deinem inneren Kind
• Trost und Fürsorge für dein inneres Kind
• Karten für das innere Kind
• Inneres Kind-Übungen
Das Konzept des inneren Kindes ist ein Markt, auf dem sich sehr viel Geld verdienen lässt. Es gibt unzählige Bücher, Seminare, Meditationen, Hörbücher, Karten, Gesprächskreise, Konferenzen usw. Alles was du brauchst, um damit auch Geld zu verdienen, ist ein gewisses psychologisches Grundwissen, ein selbstbewusstes Auftreten, gutes Marketing und Guru-Qualitäten.
Die Aussicht vieler Menschen, endlich ein leicht verständliches Konzept zur Überwindung ihrer Probleme gefunden zu haben, öffnet ihnen ihr Herz und ihr Portemonnaie. Denn wer versteht das nicht, dass es neben den erwachsenen Anteilen auch kindliche Anteile gibt, die ich annehmen muss? Die Überzeugung der Massen erfolgt eben über Emotionen, nicht über den Verstand. Das Konzept des inneren Kindes führt nicht ursächlich zur Überwindung von Angst und Depressionen, weil es gar nicht lösungsorientiert, sondern allenfalls diagnoseorientiert ist.