Wenn ich meinen Arbeitsplatz mit dem vor 30 Jahren vergleiche, dann fällt mir als erstes die rasante Geschwindigkeit auf, mit der sich heute Veränderungen vollziehen. Digitalisierung und Globalisierung, Kostendruck und völlig neue Erwartungen der Kunden an Warenverfügbarkeit und Liefergeschwindigkeit, Arbeitskräftemangel bis in den Bereich der Einfach-Arbeit und eine neue Arbeitsmoral der jungen Generation. Aber auch immer kürzere Wellen der Organisationsveränderung, an vielen Stellen kennzahlengetriebener Aktionismus und ausufernde Reportings, um das Unplanbare planbar zu machen, das sind die Themen, die mir spontan einfallen, wenn ich an die Rahmenbedingungen denke, unter denen heute gearbeitet wird.
Die Folge all dieser Entwicklungen sind eine zunehmend verdichtete Arbeit und permanent neue Anforderungen an die Handlungskompetenz der Beschäftigten - bei gleichzeitig zunehmender Spreizung der Einkommensschere. Die Anforderungen an die Beschäftigten sind klar, von ihnen werden individuelle Anpassungsleistungen verlangt, wie sie in der Geschichte der Menschheit noch nie so groß waren. Welche Folgen das hat, ist in seinem ganzen Ausmaß noch gar nicht klar, erste Hinweise auf Langzeitfolgen geben allerdings die deutlich gestiegene Anzahl an Krankheits-Fehltagen. Die globale Schlacht um Profit geht auch in Deutschland ganz offensichtlich auf Kosten der Gesundheit vieler Beschäftigter und hier vor allem auf deren psychische Gesundheit. Die Beschäftigten reagieren auf den immensen Veränderungsdruck am Arbeitsplatz mit einem teilweisen Zusammenbruch ihrer Resilienz, ihrer natürlichen Abwehrkräfte gegen vor allem psychischen Druck.
Der Mensch ist von Natur aus bequem
Oder ist es ganz anders? Sind die Menschen nur zu bequem geworden, haben sich in der alten Welt eingerichtet und scheuen nun den Wandel? Braucht Veränderung einen kleinen Schubser? Wer Menschen zu Veränderungen bewegen möchte, muss sie vielleicht erst einmal aus ihrer „Komfortzone“ holen. Sonst bewegen sie sich nicht, scheuen das Risiko der Veränderung und gefährden damit nicht nur ihren Arbeitsplatz, sondern auch das gesamte Unternehmen.
Apropos Komfortzone, den Begriff gibt es in der wissenschaftlichen Psychologie gar nicht. Er ist wahrscheinlich von einem Unternehmensberater aus irgendeinem psychologischen Experiment abgeleitet und simplifiziert worden, um mit ihm Beratungsnachfrage zu schaffen. Entsprechend schmal sind seine theoretischen Grundlagen.
Das Drei-Sektoren-Modell
Das verbreitetste Komfortzonen-Modell ist das Drei-Sektoren-Modell. Es sieht einen inneren Sektor vor, der die eigentliche Komfortzone darstellt. Wikipedia sagt dazu: „Eine Komfortzone ist der durch Gewohnheiten definierte Bereich eines Menschen, in dem er sich wohl und sicher fühlt und es ihm deswegen leichtfällt, mit der Umwelt zu interagieren.“
Um diesen inneren Sektor herum liegt die Entwicklungszone. Sie ist risikobehaftet und angstbesetzt, weshalb sie nur allzu gerne vermieden wird. In sie tritt man ein, wenn man die Komfortzone verlässt. Um diesen zweiten Sektor herum liegt die Panikzone, die zu großem Stress führt, wenn die Entwicklungsaufgaben die individuellen Möglichkeiten deutlich überfordern.
Das Vier-Sektoren Modell
Ein ebenfalls populäres Modell ist das Vier-Sektoren Modell. Es ist nicht nur ebenso einfach gestrickt, wie das Drei-Sektoren-Modell, es ist zudem deutlich fundamentalistischer. Es kennt kein Scheitern im Sinne der Panikzone des Drei-Sektoren-Modells. Vielmehr liegt hier um den inneren Sektor der Komfortzone eine Angstzone, in der alle neuen Anforderungen erst einmal abgelehnt werden. Mit zunehmender (Erfolgs)-Erfahrung stellt sich sogleich der Lernerfolg im dritten Sektor ein, der im vierten Sektor zur langfristigen Sinnfindung und Zufriedenheit des Beschäftigten führt.
Das ist eigentlich schon der ganze theoretische Inhalt dieser beiden Modelle. Betrachten wir einmal den beiden Modellen innewohnenden Kern, die eigentliche Komfortzone. Sie ist, wie gesagt „der Bereich eines Menschen, in dem er sich wohl und sicher fühlt“.
Die Zone der Sorgenfreiheit
Dann schauen wir uns doch einmal diese sorgenfreie Zone eines ganz normalen Beschäftigten an. Dort finden wir bei vielen Menschen die Sorge um ihren Arbeitsplatz, Ratlosigkeit bei der Frage, wie die Miete für die modernisierte Wohnung bezahlt werden soll, zunehmende Ängste um ein menschenwürdiges Leben als Rentner, aber auch Themen wie Klimawandel, Rechtsruck und die vielfältigen Kriege in der Welt gehören dazu. Langsames Internet, unzuverlässige öffentliche Verkehrsmittel und eine Infrastruktur, die sich in vielen Regionen am Rande des Zusammenbruchs befindet. Viele Familien sorgen sich auch um die Schulbildung ihrer Kinder, die in einem der reichsten Länder der Erde in maroden Schulgebäuden und nach unzeitgemäßen Lehrplänen von oft völlig überforderten Lehrern unterrichtet werden. Viele sorgen sich auch, weil sie als Kassenpatienten oft monatelang auf einen Arzttermin warten müssen. Und vielleicht haben viele Beschäftigte aufgrund all dieser möglichen Sorgen auch noch das Vertrauen in die Politiker verloren, die das Ganze richten sollen.
Unsere Komfortzonen-Modelle meinen aber all diese Ängste nicht, sie richten ihren Fokus nur auf die Sorgenfreiheit am Arbeitsplatz des Beschäftigten. Und da geben sich viele Unternehmen auch in Deutschland große Mühe mit vielen Erleichterungen, oft kostenlosen Sportprogrammen, günstigen Versicherungen, einer Hängeschaukel zum Entspannen und kostenlosem Wasser, Kaffee und Obst.
An dieser Stelle bedarf es sicher keiner großen Erläuterung, dass wir unsere Gefühle, insbesondere unsere fundamentalen Ängste, nicht an der Tür zum Büro oder zur Werkstatt abgeben können. Wir haben sie ja sogar dabei, wenn wir in ein Konzert gehen, ins Kino oder zum Tanzen. Gefühle, insbesondere die existentiellen, sind da doch eher ganzheitlich.
Aber nehmen wir trotz besseren Wissens jetzt einfach einmal an, man könnte den Fokus der Gefühle des Beschäftigten tatsächlich nur auf seinen Arbeitsplatz richten. Alles andere blenden wir aus. Dann sehen wir neben den Sportprogrammen und dem Kaffee auch den Paketfahrer, der wie viele andere Beschäftigte trotz einer Vollzeitstelle mit seinem Lohn keine Familie ernähren kann. Oder den Assistenzarzt im Krankenhaus, der zu gleichen Teilen unter der enormen Arbeitsbelastung und dem Standesdünkel seines Oberarztes leidet und beides in Alkohol ertränkt. Den Key Accounter, der irgendwie die Spielregeln nicht versteht und ständig für die schwierigsten Kunden zuständig ist. Gerne auch die HR-Beschäftigte, deren Kompetenz angezweifelt wird, weil sie nicht die Bewerber bringt, die das Unternehmen benötigt. Oder den ganz normalen Sachbearbeiter, der die ganzen Veränderungen einfach nicht mehr versteht und dem langsam alles egal ist.
Sich „wohl und sicher fühlen“ ist in unserer Arbeitswelt selbst bei eingeschränktestem Fokus nur schwer vorstellbar. Selbst wenn es den einen oder anderen freudigen Moment im Arbeitsleben eines Beschäftigten gibt, sollte das nicht zu dem Trugschluss führen, dass Arbeiten im frei flottierenden Kapitalismus zu Sorgenfreiheit führen kann. Da kann sich schon glücklich schätzen, wer Kolleginnen und Kollegen hat, mit denen er sich menschlich gut versteht.
Kurzer ideologischer Ausflug
Gehen wir das Thema jetzt einmal etwas differenzierter an. Die meisten Menschen würden sicher etwas ganz Anderes tun wollen, wenn sie ihre Arbeitskraft nicht täglich verkaufen müssten. Und zwar sowohl in ihrer allgemeinen Form (ich verkaufe mich), als auch in ihrer konkreten Form (ich fülle Excel-Listen aus). Die Arbeit erscheint vielen Beschäftigten vom Grundsatz her als von ihren wirklichen Wünschen ent-fremdet, wie die Soziologie das nennt. Was macht diese Entfremdung mit uns Menschen, wie verhalten wir uns dazu?
In der Psychologie wird unterschieden zwischen Verhalten, das uns hilft, langfristig Verfügung über uns einschränkende Bedingungen zu erlangen und Verhalten, dass uns möglicherweise aus kurzfristiger Sicht Vorteile bringt, uns aber langfristig schadet.
Wenn wir jetzt diese beiden Ansätze einmal zusammenbringen, ergibt sich folgendes Bild. Die meisten Beschäftigten würden eigentlich lieber etwas ganz Anderes tun als jeden Morgen an ihren Arbeitsplatz zu gehen. Und doch schaffen es die meisten, pünktlich dort zu erscheinen und zumindest einige haben an ihrer konkreten Tätigkeit wenigstens zeitweise sogar eine gewisse Freude. Wieso ist so etwas in entfremdenden Strukturen möglich? Als Erklärung bietet uns die Psychologie das Konzept der „Selbstfeindschaft“ an. Der Mensch ist nämlich, anders als jedes noch so hoch entwickelte Tier, in der Lage, jederzeit frei zu entscheiden. Und dabei hat er immer zwei grundsätzliche Möglichkeiten: Anpassung an die aktuellen Machtstrukturen (in der Familie, in der Schule, am Arbeitsplatz etc.) oder Rebellion gegen sie (Ablehnung, Widerstand, Bummeln etc.).
Anpassung bedeutet, sich mit der Macht, welcher Art auch immer, zu arrangieren und dadurch zumindest kurzfristig im Schutz der Mächtigen relativ sicher zu leben. Aber immer im Wissen darum, dass man eigentlich etwas ganz anderes viel lieber täte und sich deshalb eigentlich für die Rebellion hätte entscheiden müssen. Damit diese „restriktive“ Entscheidung gefällt werden kann, muss der Beschäftigte all seine Sorgen und Ängste beiseite, also ins Unterbewusste, schieben. Nur wenn er all das ihn Bedrohende ausblendet, kann er seiner vom Grundsatz her als sinnlos empfundenen Arbeit nachkommen. Die Entscheidung für Anpassung im entfremdenden Kapitalismus hat also immer psychische Verdrängung zur Voraussetzung, erfordert „inneren Zwang“. Zwang ist der Zwilling der Macht.
Der Schlüssel zum Verständnis des menschlichen Verhaltens ist diese doppelte Möglichkeit bei Entscheidungen. Sie gilt natürlich auch für die Dialektik von allgemeiner und konkreter Arbeit. Ich kann mich in Kenntnis der langfristigen Folgen des Kapitalismus für Mensch und Natur gegen die Anpassung und für die Rebellion im Sinne der allgemeinen Arbeit entscheiden und zum Beispiel in alternativen Wirtschafts- oder Eigentumsformen tätig werden. Ich muss es aber nicht, ich kann mich auch für das Arbeiten unter den bestehenden entfremdenden Bedingungen entscheiden. Wie auch immer ich mich bei der allgemeinen Arbeit entscheide, daraus folgt keineswegs zwangsläufig die gleiche Entscheidung für meine konkrete Arbeit, denn auch hier habe ich wieder zwei Möglichkeiten. Ich kann mich anpassen und mich voll im Sinne des Unternehmens engagieren, ich muss es aber auch hier nicht, kann widerständig sein und etwa „Dienst nach Vorschrift“ machen. Ich kann also durchaus meine Arbeit an sich als sinnlos empfinden, trotzdem aber Spaß an meiner konkreten Arbeit haben. Aber auch die umgekehrte Kombination ist denkbar, unsere Psyche ermöglicht uns fast alles.
Für welche Option ich mich entscheide, hängt im Wesentlichen davon ab, wie ich die Folgen meiner jeweiligen Entscheidung bewerte. Je öfter sich der Mensch für ein angepasstes Verhalten gegenüber Machtstrukturen entscheidet, desto mehr Impulse der Gegenwehr muss er unterdrücken. Sein Gefühl sagt ihm vielleicht, dass er am liebsten alles hinschmeißen möchte, sein Verstand aber hält ihn nach einer Güterabwägung davor zurück. Dieses Verhalten hat weitreichende Folgen, denn es formt die Sicht des Menschen auf sich selbst, seine Haltung.
Wer in seinem bisherigen Leben gelernt hat, dass Anpassung zwar keine Sicherheit und Reichtümer einbringt, aber kurzfristig deutlich risikoloser ist als Rebellion, bei der man alles, zum Beispiel seinen Arbeitsplatz, verlieren kann, der wird bei Entscheidungen auch in Zukunft wahrscheinlich eher zur Anpassung neigen. Mit der Zeit wird es schwer, sich vor Entscheidungen immer wieder bewusst zu machen, dass man ja aktiv zwischen mindestens zwei Handlungsoptionen entscheiden kann und so erscheint die entfremdende Wirklichkeit irgendwann als das einzig Normale, das man nicht mehr grundsätzlich hinterfragt. Damit erscheint dann auch die Anpassung an das Normale als das Normale und die bei jeder Entscheidung vorhandene Alternative der Rebellion wird in das Reich linker oder grüner Ideologie verschoben. Zumindest kurzfristig kann das zu einer Entlastung des eigenen psychischen Apparates führen. Und doch ist die Alternative der Rebellion jederzeit präsent, wenn auch nicht immer bewusst.
Der Zusammenbruch
Wenn der Anteil der Arbeitsausfälle insbesondere aufgrund psychischer Krankheiten in den letzten Jahren dramatisch ansteigt, dann ist die Ursache dafür genau in diesem Anpassungsverhalten zu finden. Ein Beschäftigter, der viele Jahre lang mit innerem Zwang engagiert und eifrig seine konkrete Arbeit erledigt hat, kann bei zunehmendem Druck von außen (etwa eine erlebte Enttäuschung durch das Unternehmen) und innen (die Fülle der ins eigene Unterbewusste geschobenen rebellischen Impulse) irgendwann sein gesamtes psychisches Konstrukt nicht mehr vollständig absichern. Die immer vorhandene Alternative der Rebellion bekommt plötzlich mehr Spielraum und führt in der Güterabwägung des Verstandes immer öfter nicht mehr zu dem bisher fast automatischen Ergebnis der Anpassung an das scheinbar Normale. Stattdessen stellt sich der Mensch zunehmend die Sinnfrage und kommt immer öfter zu dem Ergebnis, dass er sich möglicherweise während eines Großteils seines Lebens für die falsche Alternative entschieden hat. Zumindest zu Beginn dieser Entwicklung ist das dem Menschen oftmals nicht bewusst, er merkt nur, dass er der Wirklichkeit zunehmend die Eigenschaft des Normalen, zumindest des erstrebenswert Normalen abspricht. Das führt zu einer zunächst nicht bewussten Widerständigkeit im Entscheidungsprozess. Sein Weltbild, seine Haltung beginnt instabil zu werden, es fehlen aber aufgrund mangelnder Erfahrung mit rebellischen Entscheidungen oftmals alternative Verhaltensmuster. Der Mensch gerät zunehmend in Entscheidungskonflikte, weil alte Werte nicht mehr kritiklos hingenommen werden, neue Werte aber noch nicht als Haltung entwickelt sind mit der Folge einer zumindest partiellen Handlungsunfähigkeit. Und genau diese Handlungsunfähigkeit ist die Ursache für psychische Störungen, insbesondere die affektiven (ICD-10, F3-Kapitel), neurotischen, Belastungs- und somatoformen Störungen (F4-Kapitel).
Allerdings hat der Mensch auch an dieser Stelle wieder mindestens zwei Handlungsoptionen. Er kann die psychischen Konflikte annehmen und für sich einen neuen Weg suchen (oft verbunden mit großen Entscheidungen wie Scheidung, Arbeitsplatzwechsel, Umzug, etc.). Er kann aber auch vor diesen Anstrengungen zurückschrecken und seine rebellischen Impulse weiterhin unterdrücken. Oft wird dies begleitet von der Entwicklung einer radikal-reaktionären Haltung oder sarkastischen Zügen als vermeintlichem Schutz gegen seine immer auch noch vorhandenen rebellischen Impulse.
Die Psyche ist ganzheitlich in Raum und Zeit
Spätestens seit seiner Geburt muss der Mensch ständig zwischen Anpassung und Rebellion entscheiden. Seine Lebensumstände und die Erfahrungen, die er dabei sammelt, führen zu einem je eigenen Muster von Angstbereitschaft und Freiheitsstreben. Seine gesamte bisherige Lebensgeschichte inklusive der aktuell gefühlten Sorgen und Ängste, aber auch Träume und Phantasien sind die psychische Grundlage, auf der er seine Entscheidungen auch am Arbeitsplatz trifft. Und genau deshalb ist es realitätsfern, von Beschäftigten zu fordern, sie sollten bitte hoch engagiert arbeiten, ihr privates Leben, ihre Ängste und Sorgen aber bitte außen vorlassen. Es gibt keine Komfortzone am Arbeitsplatz, wenn es sie nicht auch im „sonstigen“ Leben gibt.
Perspektivenwechsel
Jetzt nehmen wir einmal einen Perspektivenwechsel vor. Bisher haben wir nur über die Ängste gesprochen, die Veränderungen oder Lernen erschweren und durch die nach Ansicht der Komfortzonen-Modelle die Beschäftigten gehen müssen, um anschließend glücklicher und produktiver zu sein. Was wir bisher noch nirgendwo in diesen Komfortzonen-Modellen als Antrieb gefunden haben, ist das Gegenteil von Angst, nämlich Sinn oder Wert.
Die Psyche des Menschen ist so gestrickt, dass sie nicht nur unter Bedingungen leben, sondern diese auch aktiv gestalten möchte. Das ist übrigens der einzige Grund, warum uns in der Evolution der Sprung aus dem Tierreich geglückt ist in eine vom Menschen geschaffene Gesellschaft, in der zum Beispiel für Sicherheit, Nahrung und Gesundheit schon dann gemeinsam gesorgt wird, wenn noch gar keine akute Mangelsituation vorhanden ist. Und in der wir Dinge produzieren, die irgendwann einmal irgendjemand gebrauchen kann. Diese Entwicklung, mit der die Gesellschaft die Evolution ablöst, wäre niemals geschehen, wenn der Mensch an sich faul und bequem und jeder Wandel ihm ein Grauen wäre. Im Gegenteil, Wandel muss evolutionär grundsätzlich positiv belegt gewesen sein, ansonsten säßen wir heute noch auf den Bäumen. Vereinfacht gesagt wurden Aktivitäten, die den Menschen geholfen haben, ihre Situation vorsorgend und gemeinsam mit anderen zu verbessern, im Tier-Mensch-Übergangsfeld emotional positiv bewertet und führten in der Antizipation der möglichen Ergebnisse zur Motivation der Veränderungshandlung, also zur Bereitstellung von Energie für Lernen und Arbeiten. Alle Einflüsse hingegen, die mich von der vorsorgenden und gemeinsamen Lebensführung ausgeschlossen hätten, müssen schon in dieser Zeit emotional negativ bewertet worden sein und zu körperlichen und psychischen Hemmungen geführt haben. Bei wahrgenommener Gefahr auch zu Angst bis hin zur Panik, mit der Folge einer deutlich reduzierten Lern- und Handlungsfähigkeit.
Eine Lösung, die Sinn macht
Was bedeutet dies nun für unser Thema Komfortzone? Wollen wir, dass psychisch halbwegs gesunde Beschäftigte ihre Arbeit motiviert angehen, gerne lernen, sich Neuem nicht verschließen und vielleicht sogar Motor von Veränderung sind, dann sollten sie nicht durch ein Tal der Tränen geschickt werden. Genau das Gegenteil ist erforderlich.
Lern- und veränderungsfördernde Arbeitsbedingungen sind solche, unter denen der tägliche Gang zum Arbeitsplatz nicht das Ergebnis einer Anpassung mit täglich vergrößerter Selbstfeindschaft ist. Vielmehr muss der Beschäftigte einen Sinn in seiner Arbeit in der Weise sehen, dass er mit seinem Tagwerk nicht seine eigene Entfremdung weiter zementiert. Dies betrifft sowohl die allgemeine Arbeit (vereinfacht gesagt den gesellschaftlichen Teil) wie auch die konkrete Tätigkeit. Die eigene Arbeit muss als Rebellion gegen Entfremdung und Sinnlosigkeit betrachtet werden können, dann wird Veränderung kein Problem darstellen, dann werden die Beschäftigten sie selber einfordern und - möglicherweise plötzlich umgekehrt - das Unternehmen damit überfordern. Rebellion hat dann das Potenzial, vorhandene gesellschaftliche und private Konflikte zu lösen und Sorgen zu reduzieren und damit der Vorstellung einer tatsächlichen Komfortzone näher zu kommen. Wahrscheinlich wird sich dafür und dadurch auch unser Wirtschaftssystem grundlegend ändern.
Haltung beeinflusst Handlung
Entscheidend für das Maß, in dem sich Beschäftigte für sinnvolle Veränderungen einsetzen, ist also ihre Sicht auf den Charakter ihrer allmorgendlichen Entscheidung, an ihren Arbeitsplatz zu gehen. Solange dies eine Entscheidung der Anpassung ist, wird Veränderung langfristig immer auf Kosten der Gesundheit des Beschäftigten gehen. Erst wenn es eine Entscheidung der Rebellion ist, wenn also die tägliche Arbeit als ein Teil zunehmender Verfügung über die Bedingungen des eigenen Lebens erfahren wird, erst dann werden Veränderungen nicht nur kein Problem mehr sein müssen, sondern im Gegenteil, sie werden von den Beschäftigten selbst eingefordert werden. Denn das ist die wirkliche Natur des Menschen.
Schafft eine Komfortzone!
Die Forderung „Raus aus der Komfortzone!“ erscheint im Licht dieser Argumentation als triviale Machtphantasie, die genau das Gegenteil von dem erreicht, was sie vorgibt, erreichen zu wollen.
Die psychologisch richtige Forderung für dauerhaft erfolgreiches Lernen und motivierte Veränderung darf daher nicht lauten „Raus aus der Komfortzone!“, sondern „Schafft eine Komfortzone!“, indem Arbeit einen echten Sinn und gesellschaftlichen Wert bekommt, der von den Beschäftigten im Arbeitsalltag authentisch und nachhaltig erlebbar ist.